Rossini und Deutschland


Liebe Freunde

Ich nehme dieses schöne Treffen in Gent zum Anlass, mit Ihnen eine kurze Bilanz der Arbeit zu ziehen, die wir gemeinsam geleistet haben, um dem Werk unseres geliebten Gioachino Rossini zu Bekanntheit und Ansehen zu verhelfen. Es besteht kein Zweifel, dass dank Ihrer Begeisterung und den Aktivitäten von Einrichtungen wie dem Rossini Opera Festival in Pesaro und dem Festival in Wildbad die Musik von Rossini heute viel stärker geschätzt wird als früher, aber leider ist es noch weit bis zum Ziel, für diesen großen Komponisten diejenige Präsenz im Opernrepertoire zu erreichen, die sein außerordentliches Schaffen verdiente. Trotz der schon über dreißig Jahre geführten Kampagne des Rossini Opera Festivals, seine Opern der dramatischen Gattung, die meines Erachtens die höchste und ursprünglichste Botschaft des Maestros enthalten, ans Licht zu bringen und bekannt zu machen, ist sein „Seria“-Schaffen noch weit von der Verbreitung entfernt, dank deren die Opern der komischen Gattung unablässig gefeiert werden (zur dauerhaften Popularität des Barbiere di Siviglia, der Cenerentola und der Italiana in Algeri ist unerwartet stürmisch neuerdings die des Viaggio a Reims hinzugekommen).

Ich glaube, dass meine Freunde der Deutschen Rossini Gesellschaft noch viel dazu beitragen können, dass so bedeutende Opern wie Semiramide, Tancredi, La donna del lago, Maometto II, Otello, Ermione einen bevorzugten Platz in den Spielplänen der großen deutschen Theater finden, denn ich betrachte Rossini als einen Komponisten, der der deutschen Kultur und Denktradition besonders nahe steht. Deutschland war die Heimat der großen philosophischen Spekulation, die dem modernen Denken den Weg gewiesen hat; mit Beethoven hat es der Musik das Recht erobert, die Natur göttlicher Abstraktheit zu überwinden, um menschliches Bekenntnis zu werden; mit Goethe hat es den Traum der Schönheit mit romantischem Schauder durchwirkt. Deutschland verfügt also über die Voraussetzungen, von Grund auf das Wunder Rossini zu verstehen, das Ereignis wird in seinen dramatischen Meisterwerken, in denen sich Elemente gesellen, die üblicherweise einander ausschließenden Gattungen angehören: formale Vollendung und klanglicher Reiz, Vorrecht einer eigenständigen musikalischen Gattung, die ihre Daseinsberechtigung in sich und für sich selbst findet; die Präsenz einer dramatischen Darstellung, die von den Wechselfällen und Empfindungen der Menschen handelt, indem sie über die alltägliche Realität und die moralischen Vorurteile der herrschenden Gesellschaft hinausgeht. Im Resultat ist diese hohe geistige Errungenschaft eine beglückende Mischung erlesenen Genusses, gewürzt mit dem Salz akrobatischer Virtuosität, und, zugleich, verpflichtender spekulativer Reflexion von hohem ethischen Wert.

Als Autor von Bühnenwerken darf Rossini nicht nur als Musiker betrachtet werden: in der Lebensauffassung, in der Art und Weise, das Verhalten und die Empfindungen seiner Personen darzustellen und zu beurteilen, bezeugt Rossini eine ontologische und theologische Vision von außerordentlicher intellektueller Offenheit und gelangt zu einer höchstpersönlichen spekulativen Synthese. Kraft der unentbehrlichen Vermittlung durch die Musik, ja ausschließlich dank seiner Musik gelingt es Rossini, zwei antithetische gedankliche Strömungen zu vereinen, die immer als unvereinbar gegolten haben: die in der platonischen Akademie und im aristotelischen Lyzeum erarbeitete und im monotheistischen Wissenschaftsbegriff jüdisch-christlicher Prägung reflektierte idealistische Geistigkeit, die die geistige Tätigkeit für die höhere nimmt und den Leib um einer hypothetisch-idealen überirdischen Welt willen gering achtet; und der hedonistische Materialismus, wie er im Garten Epikurs gepflegt wurde, der die Suche nach Lust hier und jetzt für möglich hält, die wenigstens das maßvolle Glück einer Seelenruhe ohne Leiden verspricht. Auf dem schwierigen Weg der Suche nach Erkenntnis leiht uns Rossini die erlesenen Waffen Taminos, ergänzt sie aber wie Mozart durch Papagenos handfeste Unverblümtheit, um auch den schlichteren Seelen den Trost des Lächelns und der Hoffnung zu geben.

Im selben Augenblick also die Sinnenlust hedonistisch gestimmten Hörens mit der Übung kritischer Reflexion zu vereinen, kann zu einer rauschhaften Anschauung des Unendlichen führen. Welcher andere Musiker vor und nach Rossini darf sich des Verdiensts rühmen, mit der Musik die menschliche Seele zu erforschen und ihr beizustehen beim Versuch, dem Anspruch des gnothi seauton zu genügen, ohne das Recht der Musik zu verletzen, nichts auszudrücken und zu erklären außer sich selbst und ihre himmlische Magie? Goethe, ein deutscher Genius, konnte in einem einzigen, unermesslichen Werk die Tränen und bebende Leidenschaft Gretchens und die kühle Schönheit der Helena, die verzehrende Neugier Fausts und die verderblich-seelenlose Macht Mephistos vereinen. Natürlicherweise kann ein Deutscher besser als andere den „ernsten“ Rossini verstehen und würdigen.

Alberto Zedda

Ansprache vom 15. Januar 2011 in Gent anlässlich der Jahreshauptversammlung der Deutschen Rossini Gesellschaft. Schriftliche Abfassung vom 13. Februar 2011; Übersetzung von Reto Müller und Claus-Artur Scheier.

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